Wir waren ihnen gegenüber zu nett

(text bezieht sich auf die antikapitalistische Proteste, s.g. Gegen-Gipfeln, in Osteuropa)

Wir waren ihnen gegenüber zu sehr wie sie selber

Fragwürdige Parallelen in Ost- und Westeuropa


„Die Regierenden organisieren ihre kapitalistischen Treffen/Gipfel unter anderem deswegen gerne in den osteuropäischen Metropolen, weil sie denken, dass dort, vom zahlenmäßigen Aspekt aus gesehen, weder eine ernsthafte organisierte noch eine radikale Gegenbewegung existiert. Wichtig ist jedoch, ihnen zu zeigen, dass die sprichwörtliche osteuropäische Gastfreundschaft ihre Grenzen hat. Bis zu diesem Zeitpunkt können sie jedoch zufrieden sein – bisher waren wir ihnen gegenüber zu nett...“

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1. EINLEITUNG

Die Entscheidung, die regelmäßig stattfindenden Treffen der einflussreichsten kapitalistischen ‚Institutionen’ des beginnenden 21. Jahrhunderts, also der Weltbank, des IWF, des G8, des Europäischen Wirtschaftsforums oder der Nato teilweise in Osteuropa auszutragen, war aus Sicht des sich globalisierenden Ausbeutungssystems die Krönung der aggressiven neoliberalen Transformation, die in dieser Region seit dem Umbruch der 80er und 90er Jahre stattfindet und ohne Ausnahme alle Prozesse und gesellschaftlichen Bereiche umfasst. Seit dem Jahr 2000 betrachten die genannten ‚Institutionen’ die Metropolen der osteuropäischen Staaten als attraktive und ihnen gegenüber ‚freundschaftlich gesonnene’ Orte für prestigeträchtige Treffen. Natürlich standen die lokalen politischen und ökonomischen Eliten dieser Entscheidung äußerst positiv gegenüber und nutzten alle Möglichkeiten, die angesehenen Treffen in ihre Hauptstädte zu holen.

Aus Sicht der antikapitalistischen Gruppen bedeutete die Austragung der elitären Treffen paradoxerweise eine völlig neue Herausforderung. Die lokalen Gruppen mussten einer neuen Ebene handeln; eine Herausforderung, vor der die lokalen Strukturen in ihrem damaligen Zustand im Prinzip nicht bestehen konnten. Und dennoch wurden, ähnlich wie überall auf der Welt schließlich auch in den osteuropäischen Metropolen mehr oder weniger effektive Aktionen durchgeführt. Und genau diesen fragwürdigen Parallelen der Ereignisse auf den Straßen von Prag, Warschau, Kiew, Sankt Petersburg und Bukarest in den Jahren 2000-2008 mit den entsprechenden in Westeuropa ist dieser Text gewidmet.

Einleitend jedoch einige unverzichtbare Worte. Sie sind unverzichtbare Anmerkungen zum besseren Verständnis des darauf folgenden Rückblicks.

Sinn und Grenzen der Vereinheitlichung von Theorie und anarchistischer Praxis in Osteuropa

Wir können Osteuropa als Region mit sich ähnelnden gesellschaftlichen Tendenzen und politischen Praktiken nur beschreiben, wenn wir die Unterschiede zwischen den lokalen antikapitalistischen Gruppen und den ideologisch ihnen nahe stehenden Bewegungen in Westeuropa sehen und verstehen. Zu solchen spezifischen Unterschieden zählen wir die Wiedergeburt anarchistischer Ideen und Zusammenhänge in den 1980er und 1990er Jahren, die alle osteuropäischen antikapitalistischen Bewegungen erlebten. Charakteristische Merkmale der neuen Zusammenhänge sind:

- ihre Wurzeln liegen im Widerstand gegen die Widersprüche, Ausbeutung und Repression, die den osteuropäischen Gesellschaften im Konflikt mit den Regimes der sozialistischen Staaten auferlegt wurden;
- das völlige Fehlen kontinuierlich existierender anarchistischer Strukturen in dieser Region, die durch die jeweiligen totalitären Regimes, den Faschismus und den Bolschewismus zerstört worden waren;
- das Fehlen der im Westen vielfältigen anarchistischen/freiheitlichen Literatur in den lokalen Sprachen (mit kleinen Ausnahmen);
- das Fehlen stabiler Projekte, Gruppen und Strukturen mit reicher Erfahrung wie auch das Fehlen theoretischer Grundlagen (manche Diskussionen, wie zum Beispiel die um den radikalen fortschrittlichen Feminismus oder die Kritik am Gefängniswesen befinden sich im Anfangsstadium);
- das Fehlen solider Strukturen für den Kampf gegen das multi-unterdrückende staatlich-kapitalistische System, allen voran gegen die repressiven Strukturen;
- und vor allem: die minimale Anzahl der Aktivist_innen (!).

Der letzte Punkt wiederum bewirkt, dass die meisten Aktivist_innen sich vieler Themen/Projekte gleichzeitig annehmen, während im Westen bereits seit Jahren eine Tendenz zur Spezialisierung auf konkrete Themen vorherrscht. Hier ist nicht der richtige Ort, um zu bewerten, ob die Entwicklung der Bewegung in die Richtung von ‚Expertengruppen für spezifische gesellschaftliche Probleme’ richtig ist. Wichtig ist jedoch zu unterstreichen, dass es Ausdruck einer Notwendigkeit ist (und nicht einer freien Wahl), wenn dieselben Aktivist_innen auf vielen Gebieten gleichzeitig arbeiten.

Das entscheidende Merkmal, das das Aktionsfeld der Anarchist_innen in allen Teilen Osteuropas am meisten dominiert und eine charakterisierende gesellschaftliche Realität ist, die sie in ihren Kampf mit einbeziehen müssen, ist die tief verwurzelte gesellschaftliche Passivität. Diese wiederum ist zumindest zum Teil das dauerhafte Resultat der dem Sozialismus immanenten Dränage gesellschaftlicher Eigeninitiative und Selbstorganisation und des seit den 1990er Jahren massenhaften Imports neoliberaler Werte und kapitalistischer Herangehensweisen. Ein überzeugendes Zeichen dieser Dränage ist die völlige Abwertung, Diskreditierung und auch Rückgang solcher Begriffe, Strukturen und Werte wie ‚Solidarität’, ‚Kollektivität’, ‚Gemeinsamkeit’, ‚Versammlung’, ‚gesellschaftliche Gleichheit’, ‚Klassenidentität’, ‚revolutionäres Bewusstsein’ und viele andere. Der Begriff ‚der Linken’ und noch mehr der der ‚radikalen Linken’ haben zurzeit auch nicht die geringste Chance auf einen positiven oder freiheitlichen Klang, und das in der Gesellschaft genau so wie in der anarchistischen Szene. Die osteuropäischen Anarchist_innen stehen also vor der Herausforderung, sich nicht nur einen eigenen theoretischen und strukturellen Hintergrund zu erarbeiten sondern auch eine neue politische Praxis und Terminologie. Und das alles, während sie vor den gleichen Herausforderungen stehen wie die entsprechenden Bewegungen in Westeuropa.

Diese ganzen Elemente bestimmen die Aktivitäten der osteuropäischen Anarchist_innen auf jedem Schritt und müssen in die Überlegungen einbezogen werden, wenn man die Besonderheiten der so genannten Antigipfel diskutiert. Jedoch findet die Vereinheitlichung der anarchistischen Theorie und Praxis dieser geografisch wie historisch und kulturell so weit auseinander liegenden Region ihre Grenzen, wenn wir die einzelnen konkreten lokalen Bewegungen betrachten. In diesem Text ist jedoch kein Platz, die auftretenden Unterschiede aufzuzeigen. Zu diesem Punkt bleibt mir nur, allen Interessierten nahe zu legen, das seit 2001 (in Englisch) erscheinende anarchistische Magazin aus Osteuropa ‚Abolishing the Borders from Below’ zu lesen, das den anarchistischen Gruppen dieser Region als Plattform zum Erfahrungsaustausch dient.

Orte und Zeitpunkte der Auseinandersetzungen

Seit 2000 fanden in Osteuropa mehrere Treffen der höchsten Regierungs-, Militär und Wirtschaftseliten statt. Die lokalen anarchistischen Gruppen entschieden sich jedoch nur in wenigen Fällen dafür, sei es aus eigener Initiative oder motiviert von Aktivist_innen aus dem Westen, Gegenaktivitäten zu organisieren. Die Gründe dafür liegen in den lokalen Kampf- und Agitationstraditionen, die sich oft nicht eigneten, um mehrmonatig und gezielt zu Gegenaktivitäten zu mobilisieren, die nur einige Tage dauern. Zum Teil aber war es aber auch unmöglich, die Belastung zu tragen, die mit der Vorbereitung solcher Aktivitäten für die lokalen Strukturen verbunden war (Das Fehlen von Aktivist_innen, von Infrastruktur)

Dennoch wurde an einigen Orten und zu bestimmten Zeiten der Versuch unternommen und auf diese Ereignisse konzentrieren wir uns im Folgenden. Solche Ereignisse waren: der Gipfel der Weltbank und des IWF in Prag im September 2000; der erste Nato-Gipfel in Osteuropa im Jahr 2002 ebenfalls in Prag; Das European Economic Forum 2004in Warschau; Council of Europe 2005 ebenfalls in Warschau; die Konferenz World Economic Forum im Juni 2005 in Kiew; der G8-Gipfel im Juli 2006 in St. Petersburg; der Nato-Gipfel im April 2008 in Bukarest. Diese Gipfel unterschieden sich natürlich im Rang und im Ausmaß, in welchem sich die Wirtschaftswelt an ihnen beteiligte und die repressiven Regierungsstrukturen auftraten, und auch in dem Ausmaß des Widerstands, der gegen sie geleistet wurde: von mehreren Tausend Menschen im Jahr 2000 in Prag bis zu knapp 200 Aktivist_innen, die sich entschieden, in St. Petersburg und Bukarest auf die Straße zu gehen. Was allerdings alle Ereignisse verbindet, ist, dass die lokalen anarchistischen Szenen unabhängig von dem ihnen gemeinsamen Gefühl der Ohnmacht, eine bewusste Entscheidung trafen, eine Konfrontation mit dem System einzugehen. Diese Behauptung trifft auch auf den berühmten S26 in Prag zu (26. September 2000, Anti-Weltbank und IWF). Dies betone ich deswegen, weil in den letzten Jahren die Theorie durch die Szene geisterte, dass die Proteste von Gruppen aus dem Westen und den USA organisiert und der tschechischen Bewegung ‚aufgedrängt’ worden wären. Das ist eine völlig übertriebene Behauptung, die die tschechoslowakische Bewegung viel zu weit in den Schatten der so genannten ‚Internationals’ stellt.

Rolle der Anarchist_innen

Ich konzentriere mich in dem Text auf eine Analyse der Ereignisse aus der Sicht der anarchistischen Bewegung. Und das aus gewichtigen Gründen. Immer, wenn es in Osteuropa zu Aktivitäten kam, die die Gipfel der Eliten herausfordern sollten, wurden sie im überwiegenden Maße von den anarchistischen Strukturen organisiert und durchgeführt. Die Anarchist_innen waren auch diejenigen, die die späteren Konsequenzen der Ereignisse zu tragen hatten, ob dies nun gesellschaftliche Debatten waren, die sich auf sie konzentrierten, positiver wie negativer Einschnitte innerhalb der Bewegungen oder auch, und das vor allem, der staatlichen Repression. Über diese entscheidende Rolle der anarchistischen Bewegung sind sich die Anarchist_innen wie auch linke oder andere regierungsunabhängige Gruppierungen einig, die an den Aktivitäten in den einzelnen Ländern teilgenommen hatten.

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2. CHRONOLOGIE DER EREIGNISSE



WorldBank/IWF (2000)

Crashkurs für tschechische Aktivist_innen im Organisieren von Massenprotesten


Die Aktionen S26 (ab dem 26. September) gegen die Gipfel der World Bank und dem International Monetary Fond im Jahr 2000 waren die ersten ihrer Art nicht nur für die osteuropäischen Bewegungen, sondern auch in ganz Europa. Der S26 war sehr interessant für die weiteren Prozesse, die das Ereignis Antigipfel betrafen, nicht nur für die antikapitalistischen Bewegungen sondern auch ... für die staatlichen Repressionsstrukturen. Für die Anarchist_innen aus Tschechien wie auch für ihre zahlreich aus ganz Osteuropa angereisten Genoss_innen war dies das erste Mal, in einem großen Ausmaß auf Aktivist_innen aus anderen Teilen der Welt zu stoßen. Es entstand ein anstrengender Spagat zwischen lokalen und von internationalen Aktivist_innen mitgebrachten und vorgeschlagenen Handlungsmethoden. Man versuchte, den Weltrekord in der Disziplin ‚wie viel Infrastruktur ist notwendig, um Massenproteste in möglichst kurzer Zeit zu organisieren’ zu brechen. Außerdem waren die folgenden Fragen zu lösen: Auf welche Art können an einem Ort, an dem zwei kleine und ein großes besetztes Haus zur Verfügung stehen, die erwarteten vielen Tausend Aktivist_innen untergebracht werden? Auf welche Weise können die Aktionen auf horizontale Weise vorbereitet und die vielen Teilnehmer_innen aktiv werden, wenn es nur zwei anarchistische Infoläden gibt, in die höchstens 20 – 30 Leute gleichzeitig passen? Wie können Straßenaktionen und Blockaden mit einer Teilnahme von 15.000 Leuten vorbereitet werden, wenn an denen vor Ort organisierten größten Aktionen bis dahin höchstens 200-300 Leute teilgenommen hatten? Wie kann ein unabhängiger elektronischer Informationsfluss von Prag aus in die Welt garantiert werden, wenn praktisch keine technischen und strukturellen Geräte zur Verfügung stehen? Wie kann man sich angesichts komplett inexistenter anarchistischer Antirepressions- und medizinischer Strukturen eventuellen Massenverhaftungen, Repressionen und Verletzungen stellen? Das Problem bestand nicht nur darin, dass die Strukturen nicht vorhanden waren, sondern dass es an Ideen fehlte, wie und auf welcher Basis diese geschaffen werden könnten. Die Sorgen erwiesen sich als begründet – in Prag wurden mehrere Hundert Personen verhaftet, über 100 Personen verwundet, und die Repression fand auf verschiedenen Ebenen statt: angefangen von Grenzrepressalien über Massenverhaftungen am zweiten Tag der Proteste, Schlägen und sexuellen Übergriffen auf den Kommissariaten bis zu lang andauernden Prozessen.

Die Liste der Probleme war aber nur der Gipfel des Eisbergs, vor dem die tschechischen Aktivist_innen im Frühjahr und Sommer des Jahres 2000 standen. Eine Szene, die sich aus 50 mehr oder weniger gut organisierter Personen zusammensetzte, von denen sich, wie so üblich, nur ein Teil auf konsequente Weise verantwortlich fühlte, wurde mit einem Berg von Problemen konfrontiert. Zum Glück für die tschechischen Aktivist_innen übernahmen viele Gruppen und Einzelpersonen aus anderen Ländern einen großen Teil der Verantwortlichkeiten und kamen schon viele Wochen vor dem S26 nach Prag.

Insgesamt gesehen fand in Prag ein Crashkurs für die lokale Bewegung darüber statt, wie Massenproteste organisiert werden können und wie mit Folgen und Komplikationen umgegangen werden muss. Ein Teil dieser Erfahrungen bestand auch im Finden von Kompromissen und im Fällen von Entscheidungen, die lokal bisher niemals auf diese Weise diskutiert worden waren. Dazu gehörten unter anderem: Die Zusammenarbeit mit linken Parlamentariern, um gegen Repression und die Einreisebeschränkungen zu intervenieren; das Annehmen finanzieller Unterstützung von staatlichen Institutionen; die Unausweichlichkeit, in dem Bündnis INPEG (Initiative Against Economic Globalisation), also mit politisch weit entfernten Gruppen, zusammenzuarbeiten. Hinzu kam die Auseinandersetzung mit neuen Strategien, die von den Aktivist_innen aus dem Westen vorgeschlagen wurden, deren Hintergründe für die lokalen Aktivist_innen schwer nachzuvollziehen waren. Für die meisten jungen Aktivist_innen war dies also eine intensive Zeit des politischen Heranwachsens in einem Tempo, das sie bisher nicht kannten. Teilweise gaben sie bereits in der Vorbereitung auf, andere hielten bis zum Ende durch, brannten darin aber aus. Manche machten jedoch Erfahrungen, auf die die lokale Bewegung bis heute baut. Einige wenige blieben in ihren ursprünglichen Projekten und behielten ihr praktisches Vorgehen unverändert bei.

Der S26 war für die Bewegung in Tschechien wie auch für die gesamte Region ein Durchbruch in der Verwendung des Internets als Kommunikations- und Koordinierungsmittel. Die gesamte Mobilisierung basierte auf Internetseiten und –listen, was für viele Aktivist_innen neu war. Betrachtet man dies als positive Entwicklung, so war die Vorbereitung des S26 für viele osteuropäische Aktivist_innen ein privater Workshop in Internetkommunikation. Unter anderem war dies eine Folge der intensiven Zusammenarbeit mit Aktivist_innen aus dem Westen, für die das Benutzen dieser Kommunikationskanäle und –techniken unerlässlich war, wodurch sich die tschechischen Aktivist_innen, ob sie wollten oder nicht, mit der Materie anfreunden mussten. Ich meine hier nicht, dass das Internet als solches in Prag oder Warschau erst im Jahr 2000 publik wurde, sondern dass sich ein großer Bereich der Aktivitäten und Organisation auf die elektronischen Kommunikationskanäle verschob. Dabei ist bedeutend, dass dem S26 eine große Zahl von Informationstreffen außerhalb Tschechiens vorausgingen. Zum Beispiel nahmen an Mobilisierungsveranstaltungen in Polen, die ich damals mitorganisierte, jeweils bis zu hundert Personen teil. Die Mobilisierung zum S26 hatte einen bis zu diesem Zeitpunkt in Europa noch nicht da gewesenen dezentralen Charakter. Ermöglicht wurde die in erster Linie durch die Energie, die die Ereignisse in Seattle 1999 freigesetzt hatten.

Es lohnt sich, der Frage der Interaktion der Massen von Aktivist_innen, die nach Prag gekommen waren, ein paar Sätze zu widmen. Der S26 war der letzte große Protest, an dem ich teilnahm, an dem so offen und demokratisch in den Convergence Centers über radikale Strategien der Konfrontation mit dem Gegner diskutiert wurde. Diese internationalen Meetings gehen mit Sicherheit in die Analen der Bewegung ein, nicht nur wegen ihrer Dynamik und ihrer organisatorisch solidarischen Haltung, sondern auch aus rein funktionalen Gründen: auf ihnen wurde ein wirkungsvolles Auftreten erarbeitet. Natürlich wurden einige taktische Nuancen und Ideen diskreter und in kleineren Kreisen vorbereitet, aber auch diese wurden später präsentiert und offen auf den Treffen diskutiert (unter Teilnahme vieler Dolmetscher) wie auch auf vertrauenswürdigen Kanälen mit Leuten besprochen, die noch nicht nach Prag angereist waren. Aufgrund dieser anspruchsvollen und konsequent durchgeführten Vorgehensweise war der Großteil der Personen, die an dem S26 teilnahmen, gut informiert und auf die Aktionen vorbereitet. Solch eine selbstverständliche Umsetzung radikaler Demokratie (anarchistischer Organisationskonzepte) im Rahmen einer radikalen antikapitalistischen Mobilisierung war aufgrund der Zunahme der Repression von Seiten der sich (sehr viel schneller als unserer) technologisierenden Mechanismen staatlicher Kontrolle danach nie wieder möglich. Im Rahmen dieses radikalen, kompromisslosen und den anarchistischen Idealen nahe stehenden Vorbereitungsprozesses der Auseinandersetzungen kam es zum ersten Mal in diesem Maße in Europa zu einem inspirierenden Austausch von Methoden und Techniken direkter nicht-hierarchischer Kommunikationsformen. Die von Aktivist_innen aus Großbritannien und den USA vorgeschlagenen Methoden der Durchführung von Treffen und Versammlungen, das Konzept der Rotation oder auch der Zeichensprache während größerer Treffen, schienen anfänglich problematisch, stellten sich aber als ideale Vervollkommnung der Spontaneität und Enthusiasmus der Aktivist_innen aus dem Osten und des Temperaments und der Kompromisslosigkeit (im Planen wie im Handeln) der südeuropäischen Aktivist_innen heraus. Aufgrund der ganzen oben aufgeführten Fakten denke ich, dass es sehr gut war, dass so viele junge Aktivist_innen, vor allem aus Osteuropa, die Möglichkeit erhielten, an dieser erhellenden Prager Erfahrung teilnehmen zu können, die sich auf ähnliche Weise nie wiederholen sollte.

Des weiteren trugen der gute Informationsfluss aus Prag zu den unzähligen Bewegungen auf dem ganzen Kontinent (der Grund, warum die meisten Leute so gut informiert und organisiert anreisten) und die gute Vorbereitung der Struktur der Treffen, Spoken Councils und General assambleas vor Ort in den letzten Tagen vor den Auseinandersetzungen zur Effektivität des Vorbereitungsprozesses für den S26 bei. Dies wurde vor allem durch die Idee ermöglicht, Delegierte einzelner Bewegungen bereits einen Woche im Voraus nach Prag zu schicken. Diese Personen/Gruppen erfüllten eine zweifache Aufgabe: logistische Unterstützung und strategische Vorbereitung vor Ort, sowie ständigen Kontakt zu ihren Gruppen zu halten, die, was noch interessanter scheint, Anmerkungen, Kritiken, Vorschläge aus ihrem Umfeld zurück nach Prag leiteten. Dies funktionierte überraschenderweise gut, unter anderem auch deswegen, weil viel Zeit, Energie und Aufwand investiert wurde.

Wenn man über die Erfahrungen im Zusammenhang mit Prag schreibt, kommt man nicht umhin zu bemerken, dass für die meisten Gruppen die Teilnahme an den „Prague anti-capitalistic riots“ eine einzigartige Erfahrung war, die sie vorher noch nie erlebt hatten und auch danach in ihren Heimatstädten meistens nicht noch einmal erleben sollten. Beinahe legendär ist der kollektive Angriff einer Gruppe von etwa 150 polnischen Anarchist_innen an der Spitze des ‚Blauen Blocks’ auf die Absperrung der tschechischen Polizei, die den Weg zum Kongresszentrum blockierte. Er leitete eine mehrere Stunden andauernde Schlacht auf den Straßen Prags ein und ist ein Beispiel für die Einzigartigkeit der Geschehnisse. Die polnische anarchistische Bewegung war bisher noch nie in der Lage gewesen, die Tradition des Kampfs mit der Polizei aufzugreifen und ein solches Vorgehen umzusetzen. Das Auftreten der polnischen Anarchist_innen in Prag war also kein Resultat aus dem (täglichen) Kampf der Bewegung. Es war vor allem bestimmt durch die einzigartige Möglichkeit, sich dem Feind so zu stellen, wie es richtig ist, ein wichtiger Moment, um Erfahrungen in einer solchen Form der Auseinandersetzung zu sammeln. Das betrifft genau so die Personen, die Polizeisperren durchbrachen oder Gasgranaten zurückwarfen, wie auch diejenigen, die sich als Sanitäter_innen organisiert hatten. Zwar kamen diese Erfahrung bisher in Polen noch nicht in der selben Intensität zum Tragen, es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass ein Teil der Erfahrungen, die polnische Anarchist_innen während der „blue riots“ in Prag gesammelt hatten, bei der kämpferischen Verteidigung der Kabelfabrik in Ozarów in der Umgebung von Warschau umgesetzt werden konnten. (mehrere Tage lang kam es im Winter 2002 zu Auseinandersetzungen zwischen Arbeiter_innen und Polizist_innen) und auch bei internationalen Konfrontationen wie bei dem G8 in Genua.

Jedoch nicht nur Anarchist_innen aus dem Osten sammelten Erfahrungen, auch ihre radikal-linken Genoss_innen aus dem Westen, die genau wie die ersteren in Prag gewesen waren und später dann auch in Warschau, St. Petersburg und Budapest, reflektierten ihre bisherige politische Praktiken. Vielleicht verstehen einige nun, dass man in den Augen der Leute, die fast ein halbes Jahrhundert unter einem staatssozialistischen Regime gelebt haben, sich selbst und auch die lokale radikale antiautoritäre Bewegung diskreditiert, wenn man mit an ihren Fenstern mit roten Fahnen vorbeimarschiert. Das ist eine Frage des Respekts vor spezifischen historischen Erfahrungen und ihrer Folgen: eines sozialen Bewusstseins und politischer Praxis. Vielleicht fühlte sich auch die holländische autonome Volksküche „Rampenplan“ zu internen Debatten aufgerufen, nachdem polnische Anarchist_innen zum Boykott ihrer im Prager Convergence Center aufgebauten Küche aufgerufen hatten. Ein Boykott aufgrund der Preise, die für ein warmes vegetarisches Gericht verlangt wurden. Der vorgeschlagene Preis übertraf nicht nur die finanziellen Möglichkeiten der Aktivist_innen aus den meisten osteuropäischen Ländern, sondern auch die Preise, die ein Essen in den billigeren tschechischen Restaurants kostete. Polnische food not bombs-Gruppen reagierten spontan und boten bereits kurz danach Gratismalzeiten an. Dies ist im Übrigen ein gutes Beispiel für einen grundsätzlichen Unterschied in Tradition und in politischer Praxis – in Osteuropa sind Aktivitäten mit finanziellem Hintergrund nur marginal zu finden, weit verbreitet sind stattdessen Methoden des DIY und Lösungen auf der Grundlage eines Minimalbudgets; grundsätzlich sollte alles möglich sein, ohne auf finanzielle Unterstützung zurückzugreifen, und wenn es diese dann doch geben sollte, so wird sie als Vereinfachung behandelt und nicht als elementarer Bestandteil des Projektes oder der Struktur angesehen. Bis heute ruft bei allen Verwunderung hervor, wie wenig Geld von den anarchistischen Kreisen in Prag und Warschau im Vergleich zum Ausmaß der Proteste, die sie organisierten, benötigt wurde. Die Kosten für die Vorbereitung des Gegengipfels in Warschau (incl . Druck der Plakate, Broschüren, Zeitungen, Reisekosten für Aktivist_innen ohne Geld, Antirepressionskosten etc.) beliefen sich auf 5000 €. Zum Vergleich: Die Kosten der Mobilisierung zum Anti-IWF in den USA beliefen sich auf 140 000 $, der Anti-G8 in Genua kostete ebenfalls mehrere Tausend Dollar. Dieser Unterschied lässt sich nicht nur durch die Unterschiede im Ausmaß der Proteste erklären.

NATO (2002) in Prag

Die Lehren aus dem S26 zogen alle...

Die tschechisch-slowakische anarchistische Bewegung erlebte im Jahr 2000 also einen großen Schock. Gleichzeitig bekamen die tschechischen politischen Eliten Appetit und luden ihre Bundesgenossen zu einem weiteren Festessen im Rahmen des ersten Gipfels der NATO in Osteuropa ein. Dieser Gipfel verlief völlig anders als der zwei Jahre zuvor. Erinnern wir uns nur daran, dass Demonstrant_innen während des S26 viele Polizeiblockaden durchbrachen und es bis vor die Fenster des Kongresssaals schafften. Das Gas der von der Polizei abgeschossenen Granaten drang in den Konferenzsaal, der Gipfel wurde unterbrochen, es kam zu einer massiven Repression. Die tschechische Gesellschaft stand mit vor Verwunderung offen stehendem Mund davor und die Menschen dachten darüber nach, worum es hier eigentlich wirklich ging. Wenn man auf die Ereignisse 2002 in Prag schaut, dann sieht es so aus, als ob alle ihre Lehren aus dem S26 gezogen hatten...

Die tschechischen Autoritäten entschieden sich dieses Mal für den totalen Terror. Auf jede_n Aktivist_in kamen mehrere Polizeibeamte (!). Eine solche Überwachung erlebte ich weder früher noch später. Bürgerrechte wurden außer Kraft gesetzt und das Versammlungsrecht radikal eingeschränkt. De facto überzeugten die tschechischen Anarchist_innen, da sie bereits Monate vor dem Gipfel unzählige Versammlungen im Zentrum der Stadt organisierten. Die Grenze wurde noch sorgfältiger geschlossen, Polizei und Sicherheitskräfte erhielten viele zusätzliche, zeitlich begrenzte Ermächtigungen. In der Stadt herrschte Ausnahmezustand, wie es ihn nach dem Fall der letzten osteuropäischen Regimes nicht mehr gegeben hatte. Etwas ähnliches konnte man erst wieder 2008 in Bukarest sehen, und dort auch, weil wieder ein NATO-Gipfel stattfand. Alle Aktivist_innen, die es dennoch schafften, Prag zu erreichen, wurden mehrfach festgehalten und langen Kontrollen ausgesetzt. Alle Treffpunkte, ob es politische Lokale oder Kneipen waren, wurden Opfer von Polizeirazzien. Es gab viele Provokationen von Seiten der Polizei, der Höhepunkt waren zurück gelassene Polizeifahrzeuge, die auf dem Weg der zweitausendköpfigen anarchistischen Demonstration abgestellt waren.

Westliche Aktivist_innen sahen Prag zu diesem Zeitpunkt anscheinend nicht mehr als attraktiven Ort für Auseinandersetzungen an. Und das ist schade, denn in dieser Zeit versuchten die osteuropäischen Bewegungen vergeblich, sich gegen die Remilitarisierung dieses Teils der Welt zu stellen. Und so kamen zu den Protesten gegen die NATO nach Prag vor allem Anarchist_innen aus Slowenien, Kroatien, der Slowakei und Polen.

Schließlich gingen die tschechischen Anarchist_innen ebenfalls sehr viel bewusster und strategischer an die Sache heran. Als einer der wichtigsten Fehler des S26 wurde angesehen, dass die tschechische Gesellschaft, oder genauer gesagt, die tschechische Arbeiter_innenklasse „mit vor Verwunderung offen stehenden Mündern“ in einer Zuschauerrolle verblieben war. 2002 widmeten tschechische Anarchist_innen nun das ganze Jahr der antimilitaristischen Aufklärung der Gesellschaft und der Präsentation der Gründe für den Protest gegen den NATO-Gipfel. Auch die Straßentaktik während des Gipfels selber entsprach mehr der lokalen Tradition, was hieß, dass sie weniger spektakulär und konfrontativ dafür aber offener für lokale gesellschaftliche Gruppen war (der Meinung der lokalen Anarchist_innen nach). Die Wahl dieser Taktik hatte auch etwas damit zu tun, dass sowohl die Medien wie auch die Polizei sich nicht scheuten, die frontale Konfrontation auf der Straße zu provozieren. In dieser Situation traf die Bewegung die Entscheidung, ihre Träume nicht zu erfüllen. Im Endeffekt fanden zwei große Demonstrationen statt: eine organisiert durch die tschechische Bewegung und eine zweite von einem internationalen anarchistischen Bündnis. Die erste ging durch das Zentrum der Stadt, während die zweite sich dem eigentlichen Konferenzzentrum näherte. Beide Kundgebungen trafen sich abends auf effektive Weise im Stadtzentrum. Zusätzlich fanden viele Happenings und kleinere direktere Aktionen auf der Straße statt. Die tschechischen Anarchist_innen verzichteten nach den Erfahrungen im Jahr 2000 von Anfang an auf eine Zusammenarbeit mit trotzkistischen Gruppen, und hielten dies konsequent bis zum Ende durch:
„Anarchist movement in Czech Rep in general don’t cooperate with so-called authoriarian left as the goals of these groups are in direct opposition to our; we tried it once as in the INPEG was also Socialist Solidarity (trockyist group). Afterwards everybody was so disgusted with their behaviour, the way thy tried to abuse the whole INPEG to their own propaganda, and finally, the way they sabotaged the plan of the blockade as their contigent simply didn’t block their part but rather showed itself in front of cameras. We didn’t make shte same mistake again and refuse to cooperate with them in any way on anti-NATO protest.”
(tschechischer Anarchist in einem Interview mit Abolishing the Borders from Below #20, August 2005)

Und so hatten die Prager Anti-NATO-Aktivitäten, die von einer Anti-NATO-Plattform (ein rein antiautoritäres Bündnis) organisiert wurden und an denen rund 2000 Personen teilnahmen einen rein anarchistischen Charakter. Der Gipfel selber wurde allerdings nicht gestört, und die dort getroffenen Entscheidungen nicht beeinflusst. Jedoch wer weiß, ob nicht dort die Grundlage für die zur Zeit in Tschechien stattfindende Kampagne gegen das amerikanische Raketenschild in Richtung Osten geschaffen wurde, dessen Radaranlagen auf tschechischen Gebiet installiert werden soll (das Raketenschild selbst dagegen in Polen). Während der Proteste knüpften außerdem anarchistische Gruppen aus Slowenien, Tschechien, der Slowakei und Polen wichtige Kontakte zueinander.

European Economic Forum (2004) und Council of Europe (2005) in Warschau

Es gibt Momente, in denen man sich zwischen Steinen und Toilettenpapier entscheiden muss

Die polnische anarchistische Bewegung bekam im Herbst 2000 deutlich frischen Wind, trotz der zahlenmäßig großen Emigration in den Westen und Hunderte wenn nicht Tausende „freiheitlich Gesinnte“ schlossen sich an. Ein deutliches Zeichen dafür war die 1. Mai Kundgebung (Warschau 2001), die größte in der Geschichte der anarchistischen Bewegung, die de facto auf der Welle der Prager Ereignisse während des S26 organisiert wurde, und an der rund 1500 Personen teilnahmen. Wie ich schon anmerkte, sammelten polnische Anarchist_innen ihre Erfahrungen bei verschiedenen Auseinandersetzungen in ganz Europa, wovon ein Blick auf die Liste der Festgenommenen bei den Gipfeln in Prag, Göteborg 2001 (EU-Gipfel), Genua 2001 (G8) und Brüssel 2001 (EU-Gipfel) zeugt. Außerdem nahmen auch andere polnische Linke an internationalen Protesten teil. Als im Jahr 2004 der Gipfel European Economic Forum in Warschau stattfand, war daher klar, dass die Anarchist_innen die einzige Gruppierung sind, die in der Lage waren, die Belastung der Organisierung des Antigipfels „M29“ zu tragen. Die Anarchistische Förderation (Federacja Anarchistyczna, FA) zählte zu diesem Zeitpunkt kaum 200-300 Mitglieder und arbeitete mit anderen, kleineren Gruppen, Kollektiven und anarchistischen Einheiten zusammen (vielleicht noch einmal rund 50 Personen), zudem signalisierte die polnische anarchistische Emigration ihre Unterstützung – und das war bereits das gesamte Potential, das das leistungsfähigste antikapitalistische Umfeld ausmachte. Trotz Erklärungen von Seiten anderer linker Gruppen und einiger NGO’s, Aktionen gegen das EEF zu planen, wurden so gut wie alle Fragen, die mit dem M29 verbunden waren – logistische, die Unterkunft betreffende, Mobilisierung, anarchistische Konferenz, Übersetzungen, Antirepressionsstrukturen, Planung und Durchführung von Demonstrationen – die ganze Belastung – von Anarchist_innen diskutiert bzw. gelöst. Dies wirkte sich positiv aus, indem zum einen in der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gruppen Vertrauen in die horizontalen Strukturen geschaffen und es zum anderen möglich wurde, die den Anarchist_innen nahe stehenden Arbeiter_innen, subkulturellen und ökologischen Zusammenhänge auf die wichtigsten Demonstrationen zu mobilisieren. Zu den negativen Folgen gehörte, dass der staatliche Repressionsapparat sich auf die anarchistischen Personen und Orte konzentrierte und die Strukturen mit organisatorischen Aufgaben so belastet waren, dass wenig Zeit blieb, selber praktisch zu intervenieren und eine effektive Strategie für Straßenaktionen zu entwickeln. Hier ist anzumerken, dass die Anarchist_innen, auch wenn sie die zentrale Demonstration alleine organisiert hatten, ihre Bühnen anderen linken Gruppen zu Verfügung stellten, damit diese ihre Inhalte weitervermitteln konnten, und andere politische Zusammenhänge in unterschiedlichen Situationen unterstützten. Später wurde selbstkritisch hinterfragt und als destruktiv bewertet, dass Zeit und Mittel zur Unterstützung der Mobilisierung einiger kommunistischer Gruppierungen aufgewendet wurden. Wie ich schon bemerkte, hing die Teilnahme von Menschen aus der Arbeitswelt mit den horizontalen Kontakten der anarchistischen Bewegung zu einzelnen Betrieben und Arbeiter_innenzusammenhängen zusammen, und nicht, wie im Westen üblich, damit, dass die Leitung einzelner Gewerkschaften entschieden hat, an dem Protest teilzunehmen. Und so gingen die Arbeiter_innen der Betriebe, die in den Jahren 2001-2004 auf Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern gegangen waren, auf der Demonstration in Warschau gemeinsam in einem Block mit den Anarchist_innen, die sie aktiv in ihren Arbeitskämpfen unterstützt hatten. Auch die Bergarbeiter aus Wałbrzych, die „Biedaszybnicy“, entschieden sich, dem die Demonstration anführenden schwarzen Block anzuschließen. Sie waren der Meinung, dass, wenn die Polizei sie angreifen sollte (es gab begründete Befürchtungen, dass die Polizei versucht, die Bergarbeiter vom Rest der Demonstration abzuspalten), sie sich in diesem Block der Demonstration am sichersten fühlen.

Wenn man die organisatorisch-kommunikativen Fragen betrachtet, so mussten die meisten wichtigen Treffen aufgrund der Aufdringlichkeit der Polizei in kleinen Kreisen an konspirativen Orten stattfinden. Weil das Convergence Center ständig observiert wurde, diente es nur als Sammelpunkt und zur Vorbereitung von Materialien für die Demonstrationen. Ein interessanter, und sicherlich nicht von allen Seiten her perfekter organisatorischer Aspekt war die von den Warschauer Anarchist_innen organisierte große und für alle offene Versammlung am Abend vor Beginn des Gipfels. In einem zentralen Warschauer Park fand eine Massenaktion Food not Bombs statt, die in einer abendlichen Versammlung mündete, an der Hunderte Personen teilnahmen. Die Versammlung sollte eigentlich reinen Informationscharakter haben, dennoch wurden einige Fragen zur Diskussion gestellt. Viele der vor allem jungen Leute erlebten so etwas zum ersten Mal und für die meisten von ihnen war dies eine die kollektive aufbauende Erfahrung. Hier ist wichtig anzumerken, dass solche Versammlungen in Polen eine Seltenheit sind und ein Plenum in dieser Größe einzigartig ist.

Bezüglich der Frage der strategischen Vorgehensweise bei der Auseinandersetzung auf der Straße standen die polnischen Anarchist_innen vor einem großen Dilemma. Auf der einen Seite war die junge Bewegung in diesen Tagen mobilisiert wie nie zuvor, was bedeutete, dass eventuell eine offene Konfrontation mit den Staatsinstitutionen möglich gewesen wäre. Auf der anderen Seite war klar, dass genau dies erwartetet wurde und die Polizei deshalb vorbereitet war. Es geht hier nicht in erster Linie um die 100-150 Aktivist_innen aus dem Westen, die sich an das radikale Auftreten der polnischen Anarchist_innen in Prag erinnerten, sondern vor allem um die auf dieses Aufeinandertreffen vorbereiteten Polizeikräfte und auch um ausnahmslos alle Medien, die bereits wochenlang ein „Warschauer Genua“ vorhersagten und, das ist ein Ereignis auf europäischem Niveau, um die europaweit berüchtigten polnischen Fußballhooligans, die nichts mit anarchistischen Ideen gemeinsam haben und einfach die Möglichkeit einer ernsthaften Konfrontation mit den Polizeikräften sahen, an der sie sich gerne beteiligt hätten (das sah faktisch so aus, dass Fußballfans aus verschiedenen polnischen Städten anreisten und sich in der Nähe des schwarzen Blocks aufhielten, um nicht den zündenden Moment zu verpassen.). In dieser Situation war ein großer Teil der Szene der Meinung, dass man auf die direkte Konfrontation vorbereitet sein sollte, sich aber nur im Falle eines direkten Angriffs von Seiten der Polizei verteidigen sollte, aber keine Auseinandersetzung initiieren wollte, denn dies wäre nur ein politischer und materieller Gewinn für die Welt der Politik, des Repressionsapparats und des Medienbusiness’ gewesen. Ein weiteres entscheidendes Argument gegen die offene Konfrontation war das erklärte Ziel, bei der arbeitenden Bevölkerung Sympathie und Verständnis für die eigenen Ideen zu gewinnen. Es sollte nicht unterschätzt werden, wo nach Beendigung des Gipfels die Sympathien der gewöhnlichen Leuten liegen: bei der wirtschaftlichen Elite und deren Sicherheit gewährleistendem Staat oder bei den Anarchist_innen und der in ihren Reihen mitlaufenden Arbeiter_innen. Im Endeffekt entschied man sich für die prophylaktische Strategie, denn man glaubte zum einen nicht, dass man ungeschoren aus einer Auseinandersetzung auf der Straße herausgehen könne (12 Tausend Polizist_innen gegen 4-5 Tausend im Straßenkampf unerfahrene Demonstrant_innen), zum zweiten, dass es entschieden besser sei, gesellschaftliche Sympathie zu gewinnen, indem man die Absurdität des staatlichen Kontrollwahns in seiner reinen Form aufzeigt, als sich mit ihm zu messen. Und so warfen Anarchist_innen in dem Moment, als die Demonstration auf die bis zu den Zähnen bewaffneten Polizisten traf, Hunderte Toilettenpapierrollen und riefen: „Genau wie dieses Papier – seid ihr zum Kotzen!“ Diese Aktion gefiel den Bewohnern Warschaus und selbst einigen Fußballhooligans – den letzteren vielleicht aus dem Grund, weil ein Teil der Papierrollen mit Steinen gefüllt waren, um ihre eigene kinetische Energie anzuheben.

Mit kleinerem Schwung machten sich die polnische anarchistische Bewegung und andere antikapitalistische Zusammenhänge auf zum Gipfel Council of Europe im Jahr 2005. Gründe dafür gab es sicherlich viele. Einer war mit Sicherheit die schon seit einiger Zeit andauernde ideologisch-strategische Veränderung der Bewegung in eine anarcho-syndikalistische, was eine andere Art der sozialen Konfrontation in den Mittelpunkt der Aktivitäten rückte. Auch die Debatte im Kontext der Gipfel um das Thema „massenhaftes Auftreten oder viele direkte dezentrale Aktionen“ verhinderte ein Umsetzen gemeinsamer Taktik. Die Proteste gegen den Gipfel Council of Europe in Warschau gingen vor allem in Folge des bis heute stattfindenden Prozesses gegen eine Gruppe Warschauer Anarchist_innen, die nach einer Aktion festgenommen worden waren, in die Geschichte ein.

World Economic Forum in Kiew (2005)

Im Juni 2005 kam es zu Protesten gegen die Konferenz des World Economic Forum in Kiew. Die Proteste wurden von der Initiative „World is not for sale“ organisiert, die speziell für dieses Ziel gegründet worden war. Sie bestand aus Kiewer Anarchist_innen, Antifaschist_innen, Leuten aus der Hardcore-Szene, Trotzkist_innen und anderen Linken. Es ist nicht viel über spezifische Probleme und Strategien rund um die Aktivitäten bekannt. Nur, dass es nicht zur offenen Konfrontation mit den Machthabenden kam. An diesen Protesten nahmen nicht viele Gruppen aus Westeuropa teil. Ein Bericht aus Kiew kann man in der Abolishing the Borders from Below #20 (Seite 13) finden.

G8 in St. Petersburg (2006) und NATO-Gipfel in Bukarest (2008)

"No matter how shit scared you may be, not leave us completely alone!"

Der erste Aufruf russischer Anarchist_innen des Bündnisses Network Against G8 (NAG8), nach St. Petersburg zu kommen und sich dort den vorbereiteten Aktionen gegen den G8 Gipfel anzuschließen, erreichten Deutschland im Oktober 2005. Zu diesem Zeitpunkt war die deutsche Bewegung bereits seit längerem dabei, die Aktionen gegen den G8 in Heiligendamm im Jahr 2007 vorzubereiten. Diese Tatsache ist für einen vergleichenden Rückblick sehr bedeutend. Keine der Mobilisierungen in Osteuropa dauerte länger als ein halbes Jahr. Die Vorbereitungen zum G8 in St. Petersburg und zum Anti-NATO in Bukarest dauerten nur wenige Monate, während die zum G8 in Heiligendamm mehr als zwei Jahre beanspruchten. Die Perspektive der gesamten Bewegung mit einer solchen einzigartigen antikapitalistischen Mobilisierung neue Dynamik zu verleihen, wurde im Osten, wenn überhaupt, nicht mit derselben Nachhaltigkeit thematisiert wie im Westen. Die russische wie die rumänische Bewegung entschieden sich nach sehr schwierigen Diskussionen für die Verbreitung und Organisierung der Proteste. Dabei ging es weniger um die zu erwartende Repression (Im Endeffekt wurden in St. Petersburg wie in Bukarest sämtliche Proteste während des Gipfels verboten), als um das völlige Fehlen von Infrastruktur und Leuten. Auf der bis zu diesem Zeitpunkt größten Aktion, die von Anarchist_innen organisiert worden war, versammelten sich 150 Personen. Hinter der Mobilisierung stand also tatsächlich keine größere Organisation oder antikapitalistische Bewegung. Unter dem Namen Dissent! organisierte sich lediglich ein Bündnis einiger weniger antiautoritärer Gruppen und Individuen und die gesamte Struktur und Verantwortung lag auf dem Rücken von ein paar Leuten aus dem anarchistischen Spektrum in Moskau und einer kleinen Gruppe aus St. Petersburg. Eine Szene mit einem sehr begrenztem Hintergrund und keinerlei Erfahrung im Organisieren von Protesten größeren Ausmaßes. Die Zusammenarbeit mit politischen Parteien und autoritären linken Gruppen wurde traditionell kategorisch abgelehnt. Das Fehlen von Infrastruktur und ausreichend starken lokalen Strukturen erlaubte selbst nicht, die Proteste nach Moskau umzulegen, wo es in dieser Frage ein wenig besser aussah. „If 1000 foreign acitivists made it to St. Petersburg, the result would be logistical disaster since there would be no way to accommodate them” (Russian activist in text written for “Abolishing the Borders from Below” some months before the G8-summit)

Russische Anarchist_innen hatten infolge von wirtschaftlichen und Visaproblemen nicht die Möglichkeit, Erfahrungen auf dem ganzen Kontinent zu sammeln, wie etwa ihre polnischen companer@s. Die meisten russischen Anarchist_innen, die im Sommer 2001 nach Göteborg kamen, um gegen den dort stattfindenden Gipfel der Europäischen Union zu demonstrieren, wurden direkt am ersten Tag beim Sturm der schwedischen Polizei auf das Göteborger Convergence Center festgenommen. Das brachte natürlich auch einen gewissen Erfahrungswert, der für die Anarchist_innen aus Russland nur nicht besonders aufschlussreich war.

Aufgrund der zahlenmäßigen Schwäche der Bewegung fiel es dem Staat sehr leicht, die Aktivist_innen zu kontrollieren, zu überwachen und erfolgreich jegliche Planänderung zu vereiteln. Viele Aktivist_innen wurden bereits, und das bezieht sich sowohl auf Russland wie auf Rumänien, in den Tagen und Wochen vor dem Anti-Gipfel festgenommen; einige hörten in der Folge auf, aktiv an den Vorbereitungen teilzunehmen; teilweise, weil der psychische Druck verbunden mit den Repressionen zu groß wurde (Bedrohungen, ständige Festnahmen etc), zum Teil aber auch, um nicht andere Aktivist_innen zu gefährden, indem sie die Sicherheitspolizei mit auf Treffen brachten. In St. Petersburg, wo im Endeffekt rund 200 Autonome und Anarchist_innen (darunter rund 30 Personen aus dem Westen und 20 weitere aus Weißrussland) an den Protesten teilnahmen, versuchte man sich in Parks zu treffen, da es keine sicheren Räume gab. In Absprache mit den Autoritäten wurde ein riesiges Stadion zur Verfügung gestellt, das als Convergence Center dienen sollte. Dieses wurde jedoch als Falle angesehen, was sich kurz darauf als richtig herausstellte, denn selbst die Treffen in Parks endeten meistens mit einem Alarm oder der Intervention der Polizei. Die Aktivist_innen wurden weit voneinander entfernt auf konspirative Weise in verschiedensten Wohnungen in der ganzen Stadt untergebracht. Unter solchen Bedingungen war die kollektive Vorbereitung konkreter Aktionen so gut wie unmöglich. Also wurden die Blockaden der Hotels und die Sabotageaktionen in der Stadt dezentral bei einem minimalen Anteil von Koordination im letzten Moment vorbereitet. Bei allen Aktionen wurde das Risiko der Festnahme einkalkuliert. Und so war der erste Ort während der Proteste in Petersburg, an dem die Aktivist_innen die Möglichkeit hatten, länger kollektiv zu diskutieren und Entscheidungen zu treffen, der ... Arrest. Die Festgenommenen leisteten viele Stunden effektiv Widerstand dagegen, dass die Aktivist_innen aus dem Westen von denen aus dem Osten (Russland, Weißrussland, der Ukraine und Moldawien) getrennt werden.

In Petersburg schaffte man es selbst mit mehreren Aktionen nicht, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Proteste und ihre Notwendigkeit zu lenken. Auch konnten Aktivitäten nicht genutzt werden, um anarchistische Kreise in Russland den ihnen politisch nahen Kreisen in Westeuropa näher zu bringen; die Aktivist_innen aus dem Westen, die in Petersburg waren, gehörten zum Großteil Gruppen an, die schon seit Jahren mit russischen Anarchist_innen zusammenarbeiten. Diejenigen, die nicht dort waren, nannten unterschiedliche Gründe dafür: das fehlende Verständnis der gesellschaftlich-politischen Situation in Russland, der fehlende direkte Kontakt mit russischen Aktivist_innen, Angst vor der Repression, die Angst vor aggressiven russischen Faschisten, Sprach- und Kulturbarrieren, die Entfernung und die Kosten, die mit der Reise verbunden sind. Insgesamt herrschte bei den Aktivist_innen aus dem Westen Europas die nicht besonders verständliche Tendenz, eher russische Aktivist_innen nach Heiligendamm einzuladen, als sich bei den Protesten in Russland selber zu engagieren. Um der Sache gerecht zu werden, muss jedoch hinzugefügt werden, dass auch aus anderen osteuropäischen Ländern (außer Weißrussland) keine Aktivist_innen zu den Protesten nach St. Petersburg kamen. Ähnlich war es in Bukarest. Für die lokalen Bewegungen war dies jedoch keine besondere Überraschung. „People interested to take part in the protests and BRAVE ENOUGH are welcome“, das waren die Worte eines St. Petersburger Anarchisten, der vor dem Gipfel ein Interview gab, und die deutlich die Zweifel wiedergeben, dass es zu einer breiteren Teilnahme von westlichen Aktivist_innen kommen wird. Auf der anderen Seite verbargen russische Aktivist_innen nicht, welche Bedeutung die Teilnahme von „internationals“ an den St. Petersburger Protesten haben: „NO matter how shit scared you may be (of russian Nazis and russian police), not leave us completly alone!“ – das ist die Stimme eines anderen russischen Anarchisten aus dem Text „Against reinforcement of the stereotypes“, der in der Abolishing BB #22 im Dezember 2005 veröffentlicht wurde.

Bezüglich der Repression, dem Fehlen der Infrastruktur, der kleinen Szene von Aktivist_innen und der schwachen Teilnahme von Gruppen außerhalb Rumäniens war die Situation in Bukarest anfänglich sehr ähnlich wie die in St. Petersburg. Einen grundsätzlichen Unterschied aber bewirkte das Industriegelände, das als Convergence Centre diente. Trotz eines massiven Angriffs von Spezialeinheiten der Polizei auf diesen Ort und der Festnahme der Hälfte der anwesenden Aktivist_innen, gab es das Convergence Centre bis zum letzten Tag des Gipfels und erfüllte es seine Funktion als Raum für Versammlungen und kollektives Planen, für praktische Aktionsvorbereitungen und kollektives Schreiben von Erklärungen.

Eine für beide Mobilisierungen spezifische Sache war, dass ein antikapitalistisches Auftreten von extrem Rechten ernsthaft in Betracht gezogen werden musste. Dies war für die lokalen Szenen eine zusätzliche Motivation, sich für die Durchführung eigener Aktionen zu entscheiden und die Straße in diesen Tagen nicht den Faschisten zu überlassen. Schon allein für diese Entscheidung sollte man ihnen Respekt zollen.

***

3. DER VERSUCH EINES RESÜMEES

Wie zu sehen, haben die Aktivitäten gegen die kapitalistischen Konferenzen auf Gipfeln in Osteuropa ein viel kleineres Ausmaß als die in westlichen Metropolen, wie sie sich auch sonst in verschiedenen Aspekten voneinander unterscheiden. Allen gemeinsam war jedoch das niederschmetternde Ungleichgewicht der Anzahl der protestierenden Leute gegenüber der massiven Präsens der staatlichen Repressionsorgane. Eine Ausnahme war der S26 in Prag, aber nur in Bezug auf die sich auf mehrere Tausend belaufende Teilnahme von westlichen Aktivist_innen. Insgesamt zeigten die westlichen Bewegungen kein besonderes Interesse an den Aktivitäten in Osteuropa. Ein Zitat einer Aktivistin der Warschauer Anarchistischen Förderation (FA):

„People tend to not to go the places with developing movements – they want to go to the place where the supermarket of activism is already overflowing with products. There are very few people who want to go anyplace with smaller size movement and feel it’s important to support people.”
(Aus einem Interview für “Abolishing the Borders from Below” #20, August 2005)

Eine weitere Anmerkung zur Beschreibung der Aktivitäten ist die Tatsache, dass alle Proteste in Osteuropa in erster Linie von den lokalen anarchistischen Bewegungen /Szenen organisiert und durchgeführt wurden, die einzigen, die in der Lage waren, eine solch komplexe Konfrontation vorzubereiten. Charakteristisch war in manchen Fällen das usurpatorische Verhalten von linken Parteien, NGO’s und reformistischen Organisationen, die auf strategische Weise versuchten, die Früchte der Aktivitäten durch punktuelles Auftreten in den Medien zu pflücken. Deutliches Beispiel eines solchen Verhaltens war die Pressekonferenz, die die Aktivitäten gegen das EEF in Warschau abschließen sollte, als Aktivist_innen und Politiker aus prostaatlichen „antiglobalen“ Organisationen einen Moment der Unaufmerksamkeit der anarchistischen Szene ausnutzten und einen Tag nach der als Erfolg angesehenen Demonstration eine Pressekonferenz organisierten, während der sie sich als Hauptakteure der Aktion präsentierten. Wichtig ist hier zu bemerken, dass nach der für polnische Verhältnisse spektakulären Demonstration sowohl die Medien also auch ein großer Teil der öffentlichen Meinung den Demonstrant_innen gegenüber positiv eingestellt waren und sich über die Autoritäten der Stadt und die Polizei aufregten, die sie für den tagelangen unbegründeten Terror in der Stadt verantwortlich machten. Diesen Moment nutzen die Anführer der genannten Organisationen, die nur in geringem Maße an der Vorbereitung der Aktivitäten teilgenommen hatten. Eine andere Sache ist jedoch, dass in der Erinnerung der Bewohner_innen Warschaus die vielen schwarzen und schwarzroten anarchistischen Flaggen wach bleiben, die an diesem Tag das Bild des Stadtzentrums beherrschten.

Die NGO’s selber spielten in den Protesten eine andere Rolle als im Westen Europas. Ohne die NGO’s einzurechnen, in denen nur Anarchist_innen aktiv sind (wie frontaids in Russland und Amnesty International in Warschau), die faktisch eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Mobilisierung gespielt hatten, gaben nicht-staatliche Organisationen in den oben beschriebenen Konfrontationen in den meisten Fällen nur einen meritorischen Beitrag zu den alternativen Konferenzen, stellten vielleicht kompetente Informationen, in keinem Fall aber Infrastruktur zur Verfügung und beobachteten die politischen Entscheidungen und das Verhalten der Machthabenden. Oft, wie beispielsweise beim S26, schränkte dieses Monitoring das willkürliche Vorgehen der repressiven Staatsstrukturen ein, man darf jedoch diesen Beitrag in keinem Fall überbewerten. In den meisten Fällen hielten die NGOs einen sicheren Abstand zu dem radikalen Auftreten auf der Straße, was ihren Charakter als bremsende Elemente in Bezug auf antikapitalistische Bewegungen und als Reproduzenten der schlimmsten Vorurteile gegenüber radikalen gesellschaftlichen Bewegungen nur bestätigt.

Die oben beschriebenen Beobachtungen lassen die Schlussfolgerung zu, dass die anarchistischen Zusammenhänge in Osteuropa sich in den Jahren 2000-2008 nicht nur aus ideologischen sondern auch aus objektiven Gründen in der Zusammenarbeit und der Durchführung eines gemeinsamen Kampfs nur auf Arbeiterzusammenhänge stützen konnten, denn die Mehrheit der osteuropäischen Linken und nicht-staatlichen Organisationen sind dem System der verwurzelten Institutionen und Aktionsformen näher als gesellschaftlichen Bewegungen von unten. Im Endeffekt ist dies eine Situation, mit der diese Bewegungen täglich konfrontiert sind und die Praxis der Organisierung von antikapitalistischen Aktionen vor Augen führt.

Eine interessante Betrachtung ist der Vergleich der Antigipfel unter dem Aspekt der Antirepression. Die repressiven Organe ausnahmslos aller Staaten behandelten die antikapitalistischen Aktivitäten als einzigartige Möglichkeit zu testen, wie weit gesellschaftliche Bewegungen in einem größeren Maßstab kontrolliert werden können. Dabei ging es nicht nur um das Auftreten gegen eventuelle Auseinandersetzungen (hier sind die Ultras und Fußballhooligans die Versuchskaninchen), sondern um sämtliche Überwachungsmethoden, die Erprobung neuer Kontrolltechnologien und Einschüchterungspraktiken, die Zusammenarbeit der verschiedenen Sicherheitsdienste usw. Die Anzahl der Festgenommenen erreichte nicht das bekannte Ausmaß von Genua und Heiligendamm (auch hier ist wieder der S26 die Ausnahme), wenn man jedoch die geringe Anzahl der Personen mit einbezieht, die an den Aktionen beispielsweise in St. Petersburg oder Bukarest teilnahmen, so wurden rund 30 % der Protestierenden festgenommen! Interessant ist auch die folgende Beobachtung: die anarchistischen Zusammenhänge in Osteuropa stellen heraus, wie schwach Antirepressionsstrukturen entwickelt sind, die sich meistens nur aus ein paar Aktivist_innen zusammensetzen, über fast keine finanziellen Möglichkeiten verfügen und in denen es keine Anwält_innen mit radikalen Auffassungen und Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Aktivist_innen gibt. Gleichzeitig scheint aber das Bewusstsein der Solidarität mit den verfolgten Companer@s sehr tief verwurzelt zu sein, was bewirkt, dass trotz nicht existierender Strukturen die Unterstützung für Festgenommene normalerweise sehr stark und effektiv ist. Persönlich wurde ich während der genannten Proteste in Tschechien und Russland festgenommen, und auch in Bukarest hatte ich Gelegenheit, mit den Antirepressionsgruppen zusammenzuarbeiten und jedes Mal war ich sehr beeindruckt von den Aktivitäten auf dem Gebiet der jail solidarity. Kundgebungen vor den Verwahrungsorten und Gefängnissen gaben nicht nur den Verhafteten Kraft, sondern bewirkten auch oft ihre schnellere Freilassung.

Die letzte Anmerkung, die ich in diesem Zusammenhang machen möchte, betrifft die spezifische Bedeutung, die die Proteste für die anarchistische Bewegung in Osteuropa hatten und haben. Lange dauerten beispielsweise die Diskussionen in Tschechien und auf internationaler Ebene, wie der S26 zu bewerten sei. Hier die Stimme eines tschechischen Anarchisten, der den S26 aus lokaler Perspektive beurteilt:

„We have to distinguish the short-time and the long-time impact. Short-time impact of the anit-IMF/WB actions was bad and destrucktive (…) It was a public relation disaster and many of us felt ‘the battle for the hearts of people’ was lost, even though the battle against the summit was won. But in some time the movement started to feel differently about it. The whole thing was most importantly a very big experience for us. A lot of new ideas were brought to us and new groups inspired by them appeared (feminist groups, radical evironmentalist groups), a lot of international links were established and I think it was a big positive push for the movement in a long term perspective”
(Aus einem Interview für “Abolishing the Borders from Below” #20, August 2005).

Jedoch gibt es außer dem Aufbau der Bewegung auf der Basis der Erfahrungen, die während der Organisierung von Protesten auf einer großen Skala gemacht wurden, noch einen weiteren Aspekt. Bewegungen, die sich gerade konstituieren, haben nur selten die Gelegenheit, sich mit ihren Aktivitäten und Konzepten breiteren gesellschaftlichen Gruppen zu präsentieren. Das Auftreten gegen elitäre kapitalistische Konferenzen hatte aber zur Folge, dass Anarchist_innen mit ihren Ideen in den konkreten Situationen im Zentrum des öffentlichen Interesses standen. Wenn auch durch die Medien verzerrt, war ihr ideologischer Bezugspunkt doch die Gesellschaft, und vor allem deren unterdrückte Schichten erfuhren vom Bestehen anarchistischer Ideen und Praktiken. Zur Zeit (Oktober 2008) dringen Anarchist_innen nicht durch bis in die breiten gesellschaftlichen Debatten um die Arbeitswelt, Gewerkschafts- und Arbeitsfragen, vor ein paar Jahren jedoch waren sie durch die Mobilisierung und Durchführung von Aktivitäten gegen den EEF in der Lage, die unterdrückten Polen und Polinnen zu erreichen. Noch überzeugender klingt diese Argumentation aus der Perspektive der winzigen anarchistischen Zusammenhänge in Rumänien, die nicht nur das erste Mal in der jüngeren Geschichte der Bewegung die Möglichkeit hatten, in das allgemeingesellschaftliche Bewusstsein zu gelangen, sondern, basierend auf dem gesellschaftlichen Unmut über den Polizeiterror, im Rahmen der Anti-Nato-Aktionen bei dem provozierenden (weil das Verbot der Herrschenden brechenden) Marsch durch die Arbeiterviertel Bukarests auf viele Sympathiekundgebungen von den Arbeiter_innen und Bewohner_innen der Stadt stießen. Die meisten dieser Leute hatten noch nie von Anarchist_innen und deren Auffassungen gehört. Viele von ihnen hätten nicht den Mut aufgebracht, selbst Proteste in der Stadt zu organisieren, in der Ausnahmezustand herrschte und sämtliche öffentliche Versammlungen verboten waren; im April 2008 konnten sie sich jedoch davon überzeugen, das dies möglich ist und die einzigen, die sich dies in ihrem Land trauten die bisher von ihnen nicht wahrgenommenen Anarchist_innen waren. Schade nur, dass sich die antimilitaristischen Proteste mit antikapitalistischem Hintergrund in Bukarest nicht in den gleichzeitig in Rumänien stattfindenden massenhaften Arbeiter_innenstreiks widerspiegelten, was ihre Aussagen verstärkt hätte und ein weiteres Element in der Annäherung der punktuellen antikapitalistischen Aktionen mit dem realen gesellschaftlichen Widerstand gewesen wäre. Eine zentrale Frage, die beim Organisieren von Antigipfeln in den osteuropäischen Hauptstädten auftauchte, ist die nach dem Sinn von symbolischen antikapitalistischen Aktionen in einer Situation, in der es keinen gesellschaftlichen Widerstand und keine alltägliche Konfrontation mit dem System gibt. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage ist jedoch bereits das Thema der nächsten Veröffentlichung...

Wenn ich die Gegengipfel-Aktivitäten in Osteuropa betrachte, fällt es mir schwer, mir vorzustellen, dass westliche Aktivist_innen in technischen Fragen etwas von ihren Companer@s aus dem Osten lernen können. Mir bleibt jedoch die Hoffnung, dass der vorliegende Rückblick sich als produktiv für das bessere Verstehen der Spezifika der osteuropäischen anarchistischen Bewegung und der gesellschaftlichen Realitäten Osteuropa, die sie bekämpfen, erweist.

Habe ich etwas Wichtiges vergessen? Ahh... Leute, die in den östlichen Regionen des Kontinents wohnen gelten als sehr gastfreundlich. Leider entschlossen sich nur wenige westliche Aktivist_innen, diese Gastfreundschaft aus Anlass der Antigipfel in Anspruch zu nehmen. Zumindest taten sie es nicht so gerne wie die politisch-ökonomischen Eliten der ganzen Welt, die die Einladungen ihrer osteuropäischen Partner angenommen hatten. Die Herrschenden zeigen Interesse daran, ihre kapitalistischen Gipfeltreffen in den osteuropäischen Metropolen u.a. deswegen abzuhalten, weil sie denken, dass dort keine ernstzunehmende Aktionsformen in Bezug auf ihr Ausmaß, den Organisationsgrad und die Radikalität gibt. Es ist jedoch wichtig, ihnen zu zeigen, dass die sprichwörtliche osteuropäische Gastfreundschaft ihre Grenze hat. Bisher jedoch können sie zufrieden sein – wir waren ihnen gegenüber zu nett...

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Veronika

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